In Frankreich ereignet sich derzeit eine besorgniserregende, autoritäre Wende. Der Ausnahmezustand, der am 13. November 2015 als Reaktion auf die Terroranschläge von Paris verhängt wurde, ist seither dreimal verlängert worden. Er verleiht Exekutive und Polizei umfassende Vollmachten. Die Grund- und Bürgerrechte werden massiv beschnitten, etwa durch massenhafte Festnahmen, Hausarreste, Hausdurchsuchungen und Versammlungsverbote. Im Dezember 2015 wurde der Ausnahmezustand zum Verbot der Demonstrationen anlässlich des Klimagipfels COP 21 missbraucht; heute begünstigt der Notstand die Repression der Proteste gegen die Reform des Arbeitsrechts.
Seit Ende März 2016 kommt es im ganzen Land gegen das von der Arbeitsministerin Myriam El Khomri verantwortete Gesetz zu Demonstrationen und Blockaden durch breite Bevölkerungsschichten, Gewerkschafter_innen, Studierende und Schüler_innen. Unterschiedlichste soziale Bewegungen haben sich den Protesten angeschlossen. Im Zentrum der Kritik steht die Einschränkung der Rechte von Lohnabhängigen. Diese sollen fortan nicht mehr gesetzlich verbürgt, sondern in jedem Unternehmen einzeln ausgehandelt werden.
Die französische Regierung ignoriert die Proteste und Premierminister Manuel Valls hat das Parlament in seiner Abstimmung am 12. Mai 16 mit Hilfe des Verfassungsparagraphen 49.3 geknebelt. Diese Regelung sieht eine Koppelung mit einem Vertrauensvotum sowie die Aussetzung der Möglichkeit von Sachdebatten und Änderungsanträgen vor. Sie wird traditionell eingesetzt, wenn die Regierung keine eigene parlamentarische Mehrheit hat.
Die regelmäßigen Demonstrationen gegen das Gesetz und seine autoritäre Durchsetzung werden landesweit mit starker Repression überzogen – ohne, dass die großen französischen und internationalen Medien dem bisher die nötige Aufmerksamkeit gezollt hätten. Dabei zeugen zahlreiche Videos und Augenzeugenberichte auf Internetseiten.
Die oftmals unter großen Risiken gemachten Aufnahmen dokumentieren nicht nur die Unverhältnismäßigkeit, sondern schlicht die Unrechtmäßigkeit der Polizeigewalt. Diese beinhaltet insbesondere den willkürlichen Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas und Gummigeschossen sowie von Handgranaten, die Betäubungsschocks auslösen und Gummipfropfen mit hoher Geschwindigkeit absondern (grenades de désencerclement). Am 19. Mai erklärte der Premierminister Manuel Valls: „Es gibt keine Vorgaben zur Zurückhaltung“ – eine Aussage, die offenkundig für alle Demonstrationsteilnehmer_innen gilt. Seit Ende März sind zahlreiche von ihnen in Schnellverfahren bei unzureichender Beweislage verurteilt worden. Polizeibeamt_innen
sind dagegen bisher trotz vieler angestrengter Verfahren jeglicher Bestrafung entgangen.
Diese Zustände erinnern an den Umgang mit Protesten in autoritären Regimen. Sie sind demokratischer Gesellschaften unwürdig.
Die französische Regierung versucht, die Proteste gegen ihre Arbeitsrechtsreform durch Repression und Kriminalisierung einzuschüchtern und letztlich zu unterbinden. Die Versammlungsfreiheit wird durch den Ausnahmezustand eingeschränkt, um ein Gesetz autoritär durchzusetzen. Die eigentliche Aufgabe der Exekutive wäre es, die Grundrechte, darunter das Demonstrationsrecht, durchzusetzen, anstatt sie weiter einzuschränken.
Daher muss die exzessive und illegale Polizeigewalt sowie die Kriminalisierung der Demonstrant_innen sofort ein Ende haben!
An die französischen Regierung, den Präsidenten François Hollande, den Premierminister Manuel Valls und den Innenminister Bernard Cazeneuve richten wir daher folgende Forderungen:
Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes und Achtung aller Grundrechte durch die staatlichen Institutionen (Bewegungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Recht auf Nicht-diskriminierung usw.).
Unzweideutige Verurteilung der Polizeigewalt durch die französische Regierung, Initiativen zu polizeilicher Zurückhaltung bzw. Deeskalation und Verbot des Einsatzes von Gummigeschossen und Blendgranaten auf Demonstrationen.
Von der französischen Justiz bzw. von internationalen Organisationen fordern wir:
Verteidigung der Grundrechte auf faire und beweisgestützte Verfahren. Revisionsprozesse für alle bereits verurteilten Demonstrant_innen.
Verurteilung und Ahndung der unverhältnismäßigen und rechtswidrigen Polizeigewalt. Unabhängige und systematische Untersuchung der dokumentierten Übergriffe und Bestrafung der Verantwortlichen.
An die internationale Gemeinschaft appellieren wir:
Internationale Organisationen, Regierungen, das Europäische Parlament und der Europäischen Rat sollen die Polizeigewalt und die Repression in Frankreich verurteilen und mit allen Mitteln auf die französische Regierung einwirken, ihre Strategie der Spannung zu beenden.
An die französischen und internationalen Medien richten wir den Auftrag:
Uns unabhängig und umfassend über die Geschehnisse in Frankreich zu informieren.
Für das Recht auf Demonstrationen und Protest – in Frankreich und überall!
Unter dem #loitravailnonmerci lassen sich aktuelle Begebenheiten auf Twitter verfolgen.